Fälschungsvorwürfe und dokumentarische Fakten – Erwiderung auf Karl-Heinz Janßen
Vorbemerkung: Karl-Heinz Janßen hat es für nötig gehalten, die Diskussion um den Reichstagsbrand, die an dieser Stelle seit einigen Jahren geführt wird, im Jahre 1998 durch einen Artikel anzureichern, den er 1986, also vor 12 Jahren, in der "Zeit" geschrieben hat - wenige Tage vor der Präsentation eines unter Janßens Beteiligung entstandenen und im Piper-Verlag erschienenen Buches. Darin ging es, 1986, vor allem um die angebliche "Fälschung" von Dokumenten, die 1978 in einem von Walther Hofer und anderen Historikern herausgegebenen Band abgedruckt worden waren.
Das alles liegt also weit zurück, und die Forschung ist, wie insbesondere der Artikel von Alexander Bahar und Wilfried Kugel in diesem Reichstagsbrand-Forum zeigt, mittlerweile über den Stand von 1986 erheblich hinausgelangt, vor allem durch die Auswertung der Akten zum Reichstagsbrandprozeß von 1933, die 1945 in die Sowjetunion verbracht wurden, bis zur "Wende" von 1989/90 in DDR-Archiven lagerten und jetzt im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde zugänglich sind.
Da Janßen offenbar beschlossen hat, diese Originaldokumente von 1933 nicht zur Kenntnis zu nehmen und weiter auf den längst widerlegten Fälschungsbehauptungen zu beharren, wäre es auf den ersten Blick angemessen, auch die Reprise seines Artikels von 1986 zu ignorieren. Dann aber stünden diese Behauptungen hier unwidersprochen im Raume. Um dem vorzubeugen, folgt an dieser Stelle ein Beitrag, der ebenfalls 1986 entstand und seinerzeit in gekürzter Form als Rezension im "Tagesspiegel" erschienen ist. Er zeigt nicht zuletzt, daß die Auseinandersetzung auch deshalb immer schärfere Formen angenommen hat, weil die im Gefolge Hans Mommsens auch von Janßen vertretene Deutung des Reichstagsbrandes als Tat eines einzelnen zum wichtigen Bestandteil einer "neuen Sicht" des Wesens der NS-Diktatur gemacht worden ist. Demnach wäre diese mörderische Diktatur eigentlich eine "Polykratie" gewesen, mit einem "schwachen Diktator" Hitler an der Spitze, der weniger durch den eigenen Willen als durch die Umstände, unvorhergesehene Ereignisse und angebliche "Zufälle" (wie den Reichstagsbrand) in den Eroberungskrieg und Judenmord hineingetrieben wurde.
(Anmerkung der Redaktion: "Karl-Heinz Janßen ist von der Redaktion des Reichstagsbrand-Forums aus Gründen dokumentarischer Vollständigkeit ausdrücklich um seinen Beitrag aus 1986 gebeten worden. Insofern ist aus dem Wiederabdruck dieses Beitrages keineswegs zu folgern, daß Herr Janßen die mittlerweile aus Moskau zurückgekehrten Originaldokumente nicht zur Kenntnis genommen hat." A.K.)
Ein Wort noch zum Beitrag von Martin Schouten: Unabhängig von allen noch klärungsbedürftigen Fragen sollte nicht vergessen werden, daß der am 10. Januar 1934, drei Tage vor seinem 25. Geburtstag, hingerichtete Marinus van der Lubbe das erste Todesopfer justizförmigen nationalsozialistischen Unrechts wurde - durch jenes "machtpolitische Gesetz" vom 29. März 1933, das die in der Reichstagsbrandverordnung verfügte Todesstrafe für Brandstiftung mit rückwirkender Kraft auch für Taten zwischen dem 31. Januar und dem 28. Februar dekretierte. Das "bedeutete den flagrantesten Verstoß gegen den bei allen Kulturvölkern maßgeblichen Rechtssatz ,Nullum crimen, nulla poena sine lege‘". (Hubert Schorn, Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als Mittel der Machtpolitik, Frankfurt a. M. 1963, S. 31 f.)
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Am 27. Februar 1933, vier Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, lag der Flammenschein des brennenden Reichstagsgebäudes über dem nächtlichen Berlin. Seit damals erregt dieser Brand heftige Kontroversen. Zum 53. Jahrestag des Ereignisses ist 1986 ein Buch erschienen, das - nicht zum ersten Mal - jenen Streit auf die Ebene eines "Wissenschaftsskandals" zu heben versprach.
Ob die Nazis, die sogleich die Kommunisten beschuldigten und den Rechtsstaat liquidierten, selbst die Brandstifter waren, was seit 1933 kaum jemand bezweifelte, oder ob der junge holländische Rätekommunist Marinus van der Lubbe diesen Großbrand allein in wenigen Minuten entfachen konnte, ist die Streitfrage. Letzteres war nach 1945 vereinzelt und schließlich 1959 in einer "Spiegel"-Serie des Amateur-Forschers Fritz Tobias, der 1962 ein Buch folgte, behauptet worden, und der Berufs-Historiker Hans Mommsen hatte diese Alleintäterschafts-These 1964 bestätigt. Dieser zweiten Ansicht waren auch 1986 noch die Autoren des Buches "Reichstagsbrand - Aufklärung einer historischen Legende". Forschungsergebnisse, die dem widersprechen, beruhten, so behaupten sie, auf gefälschten Dokumenten.
In zwei Dokumentations-Bänden hatte nämlich 1972 und 1978 ein interdisziplinäres Forscher-Team unter der Leitung des Schweizer Historikers Professor Walther Hofer, der bis 1959 an der Berliner Freien Universität (FU) lehrte, und mit maßgeblicher Beteiligung des 1978 verstorbenen FU-Historikers Professor Friedrich Zipfel eine Fülle neu erschlossener Quellen und Zeugenaussagen, dazu alte und neue Gutachten über den Verlauf des Reichstagsbrandes präsentiert. Als deren Ergebnis faßte Hofer zusammen, daß ein einzelner Täter den Brand nicht entfachen konnte und daß unzweifelhaft eine nationalsozialistische Brandstiftungs-Aktion vorliege.
Dagegen feuerte 1979 der "Zeit"-Historiker Karl-Heinz Janßen eine Breitseite ab, die allerdings ohne die erhoffte Wirkung verpuffte: denn statt harter Fakten für die Alleintäterschaft lieferte Janßen vor allem haltlose persönliche Attacken - wie in zwei ausführlichen Tagesspiegel-Artikeln (31.10./30.11.1979) nachgewiesen wurde. Zu denen, die Janßen den Anstoß zu seiner Artikelserie gaben, gehörte Melitta Wiedemann, 1900 in St. Petersburg geboren, die als Hauptschriftleiterin der NS-Zeitschrift "Die Aktion" Himmler, Heydrich und Goebbels nahegestanden hatte. Sie, die auch zu Tobias‘ Bekanntenkreis gehörte, lockte mit einem sonst nirgends ernstgenommenen "Offenen Brief" an Hofer, in dem Calic heftig angegriffen wurde, den "Zeit"-Historiker auf die falsche Fährte.
6 1/2 Jahre später lag dann 1986 ein neues Buch vor. Zu seinen sechs Autoren gehören
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Janßen, Mommsen, der seit 1968 Professor in Bochum ist, und Tobias, fernerl
der Berliner FU-Historiker Professor Henning Köhler,l
der von der FU kommende damalige Trierer Hochschulassistent Dr. Eckhard Jesse undl
der damalige Trierer Student Uwe Backes.Diesmal wurde der Akzent leicht verlagert. Vor allem geht es nun um eine Reihe der 1978 publizierten neuen Dokumente, die angeblich inzwischen als "Fälschungen" erkannt worden seien, und zwar als ein ganzes "Netzwerk" von Fälschungen. Dabei geht es um zumindest Dutzende aufeinander bezogener, sich wechselseitig bestätigender Dokumente, Interviews, Zeugenaussagen, ja eines ganzen Nachlasses, von Personen verschiedenster Herkunft und politischer Couleur. Die gefälschten Hitler- Tagebücher wären dagegen fast ein Kinderspiel - bestünden die neuen Vorwürfe zu Recht.
Das Autoren-Sextett präsentierte dazu 1986 als Haupttäter ein angebliches Fälscher- Trio mit verteilten Rollen:
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Edouard Calic, Generalsekretär des "Internationalen Komitees zur Erforschung der Ursachen und Folgen des Zweiten Weltkrieges" (Luxemburger Komitee), in dessen Publikationen die zwei Dokumentations-Bände erschienen, gilt als der "Fälscher" und Beschaffer "gefälschter" Dokumente. Bei einer Buchpräsentation vor der internationalen Presse in Bonn nannte Köhler dies den "Einbruch des Balkans in die deutsche Geschichtswissenschaft": Calic, dem schon 1979 Janßens Attacken galten, stammt aus dem heute zu Jugoslawien gehörenden Istrien; die Jahre 1942-45 verbrachte er als politischer Häftling im KZ Sachsenhausen.l
Walther Hofer stellt quasi den Hehler dar, der die Falsifikate wie falsche Banknoten "sich verschafft" und sie "in Verkehr" gebracht" habe.l
Christoph Graf schließlich, Hofers ehemaliger Assistent, spielte laut Köhler die Rolle des "petit nègre", der dem/den Fälscher/n aus zahlreichen Archiven die Unterlagen für ihre Arbeit zu sammeln half. Als seinerzeitiger Vizedirektor des Schweizerischen Bundesarchivs sei er in der Rolle Draculas als Chef einer Blutbank...Das Hauptstück des Buches, mit dem Titel "Fälschungen am laufenden Band", stammt von Köhler und beginnt mit dem Satz:
"Um es vorweg zu sagen: Die im Anhang von Band 2 der 'Luxemburger Dokumentation' abgedruckten 'Dokumente' sind samt und sonders Fälschungen."
Doch schon die folgenden Sätze enthalten das Eingeständnis, diese gravierende Behauptung basiere keineswegs auf einer Prüfung der - den Autoren nicht zugänglichen - Originale. Deshalb sei der Fälschungs-Nachweis "nicht in einer kriminalistisch-exakten Analyse möglich"; doch reiche andererseits der "historisch-kritische Befund" einer Inhaltsanalyse völlig aus; er sei, so ergänzte Mommsen bei der Buchpräsentation 1986 in Bonn, so klar, daß es nun der Originale gar nicht mehr bedürfe!
Wie leicht man so in die Irre gehen kann, führte indessen am selben Ort ein Assistent Hofers an konkreten Beispielen vor:
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Ein Bericht des früheren Reichsministers Treviranus etwa, angeblich nach dessen Tod gefälscht, erweist sich als Leserbrief an die "Zeit" vom 15. Mai 1971, in Reaktion auf einen dort veröffentlichten Artikel Mommsens zum Reichstagsbrand; eine Kopie, mit eigenhändiger Unterschrift, erhielt das Komitee, dem Treviranus dann noch ergänzende Ausführungen sandte.l
Ein angeblich gefälschter Bericht des früheren Reichstagspräsidenten Paul Löbe wurde von ihm 1963 ursprünglich für den Berliner "Telegraf" verfaßt, dessen Mitbegründer im Jahre 1946 Löbe war.l
Der "Tatsachenbericht" des früheren Journalisten Hans von Kessel, wegen angeblicher inhaltlicher Unstimmigkeiten als "Fälschung" identifiziert, ist ein 26 maschinenschriftliche Seiten langes Dokument, vom Autor unter dem Datum 12. September 1969 eigenhändig unterschrieben und mit handschriftlichen Zusätzen versehen. Außerdem existiert dazu ein ausführlicher Briefwechsel zwischen Hofer und von Kessel.Diesem Dokument wird im Netz der "Fälschungen" eine Art Schlüsselfunktion zugeschrieben. Es basiert auf Informationen des Autors selbst und seines Bruders, des Polizeihauptmanns a.D. Eugen von Kessel. Dieser aber, meint Köhler, habe im Februar/März 1933 nicht in Berlin wichtige Details des Reichstagsbrandes erfahren und an seinen Bruder Hans weitergeben können, weil er dem Adreßbuch und der NSDAP-Kartei zufolge in Hamburg gewohnt habe und erst im Juni nach Berlin umgezogen sei. - Abgesehen von der Frage, weshalb ein Hamburger nicht länger oder kürzer in Berlin sein kann, wird wenige Seiten später diese Kartei-Logik umgestoßen, indem als wahr unterstellt ist, daß Kessel Ende März 1933 den jüdischen Rechtsanwalt Alsberg in Berlin aufsuchte, um ihn vor dem "Judenboykott" am 1. April zu warnen.
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Erwähnt sei noch aus dem "Breiting-Nachlaß", der offenbar insgesamt als gefälscht gilt, das Gespräch des Chefredakteurs der "Leipziger Neuesten Nachrichten", Richard Breiting, mit dem deutschnationalen Parteichef Hugenberg vom Mai 1933: Aus dem von Breiting mitstenographierten Text fertigten er und seine Tochter eine maschinenschriftliche Fassung an, von der Hofer eine notariell beglaubigte Kopie besitzt. Auch dieses Stück, das Köhler nur in den gedruckten, primär den Reichstagsbrand betreffenden Auszügen kennt, gilt ihm als gefälscht - vor allem, weil er hier wichtige Personen und Themen der damaligen aktuellen Tagespolitik vermißt, etwa Hugenbergs Konkurrenten, Landwirtschaftsminister Darré, oder Hugenbergs bevorstehende Reise nach London. Beides kommt indessen schon auf Seite 1 des Originals vor, und insgesamt beziehen sich die ersten fünf Seiten des Textes vornehmlich auf solche beim Abdruck fortgelassenen, weil nicht den Reichstagsbrand betreffenden Aktualitäten.Daß Hugenberg sich im Mai 1933 auf Eugen von Kessel beruft, der laut Köhler "damals noch in Hamburg lebte", gilt natürlich als weiterer Fälschungs-"Beweis". Gleiches gilt für die Berufung Hugenbergs auf den ehemaligen Reichstagspräsidenten Löbe (SPD), denn: "Wenn er in seinem Leben einen Feind gehabt hat, dann waren es die Sozialisten beziehungsweise Marxisten...", und in einer Wahlkampf-Rede vom 2. März habe er gar "die Bolschewisten" der Brandstiftung beschuldigt. - Doch was "beweist" das für Hugenbergs Kenntnisse und Kontakte im Mai, als er sich zunehmend gegen Hitlers Druck wehren mußte, ihn und seine Partei politisch gleich- und auszuschalten?
Mehrere Stücke des Nachlasses, die - teils im Original, teils in Kopien - im Besitz Hofers sind und nicht nur das Thema Reichstagsbrand betreffen, wurden ihm von Familienangehörigen persönlich übergeben. Außerdem liegen begleitende Schriftwechsel und eidesstattliche Erklärungen der Angehörigen Breitings vor. Daß die Dokumente tatsächlich von den Erben übergeben und nicht von Calic oder Hofer "gefälscht" wurden, ergibt sich jetzt auch aus der in den Akten der Gauck-Behörde gefundenen Überwachung des Briefwechsels über diese Dokumente zwischen Hofer und Breitings Tochter durch das DDR-Ministerium für Staatssicherheit. Zuvor hatte schon das als internationale Autorität anerkannte Urkundenlabor der Kantonspolizei Zürich keine Anhaltspunkte für Fälschungen feststellen können.
So bietet der neue Band Fragwürdigkeiten, aber keine Antworten. Auch Tobias und Jesse liefern Proben von ähnlicher Qualität, die mangelnde Quellenkenntnis durch Vermutungen und Spekulationen ersetzen und nachweisliche Datierungs-Irrtümer zu Fälschungsbeweisen erheben. Für die Alleintäterschaft wird dagegen auch in Mommsens beiden Buch-Beiträgen kein neues Argument oder gar Dokument angeführt. Sie gilt a priori als bewiesen - und zwar, wie Mommsen in einer ungewöhnlichen, die eigene Mitautorschaft verschweigenden Selbst-Rezension des neuen Buches in der "Frankfurter Allgemeinen" betonte, mit "zwingender Plausibilität", deren letzte Absicherung die Selbstrezensions-Gemeinschaft der Autoren ist: Neben Mommsen bestätigten sich vor allem Janßen (in der "Zeit") und Jesse (u. a. im "Sonntagsblatt") die Plausibilität ihrer eigenen Forschungsergebnisse.
Zu den Besonderheiten dieser neuen Methode historisch-kritischer Wahrheitsfindung gehört, neben Quellenkritik nach den obigen Beispielen, ein je nach Bedarf beliebig dehnbarer Fälschungs-Begriff, bis hin zur Gleichsetzung von tatsächlich oder angeblich "falschen" Details in Dokumenten und Zeugenaussagen, wie sie zum täglichen Brot jedes ernsthaft mit Quellen und Zeugenbefragungen arbeitenden Historikers gehören, mit "Fälschung". Nicht zuletzt der Klärung solcher Zweifelsfragen dienten Grafs umfassende Archiv- Forschungen und dient der ausführliche Anmerkungsteil der Hoferschen Dokumentation. Dieser hält freilich auch den "harten Kern" der übereinstimmend für die NS-Brandstiftung sprechenden Fakten fest, die ganz überwiegend auf Quellen nicht "kommunistischen" Ursprungs beruhen und Münzenbergs "Braunbuch" in vielen Punkten korrigieren. Müssen gerade diese Quellen deshalb unglaubwürdig gemacht werden?
Andererseits ist nicht zu bestreiten,
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daß der erste Gestapo-Chef Diels und sein enger Mitarbeiter Schnitzler, die beide zumindest der Mitwisserschaft verdächtig sind, nach dem Kriegsende die ersten Verfechter der Alleintäterschaft van der Lubbes waren, als immer wieder von der NS-Brandstiftung gesprochen und geschrieben wurde;l
daß sich ihnen, ebenfalls nach 1945, Mitglieder der von Göring eingesetzten polizeilichen Untersuchungskommission zugesellten, in deren "Abschlußbericht" Lubbe zwar die alleinige Ausführung der Brandstiftung zugetraut wurde, aber mit ausdrücklichem Fragezeichen, was den Brand im Plenarsaal betraf, und mit der Behauptung, seine Hintermänner seien Kommunisten gewesen.l
daß insbesondere der Autor dieses Berichts, Zirpins, 1953 in der "Süddeutschen Zeitung" unter dem Pseudonym "Kommissar X" wahrheitswidrig behauptete, er habe schon immer Lubbes Alleintäterschaft vertreten.Aus diesem Kreis also, der nach Kriegsende strafrechtliche Konsequenzen fürchten mußte und deshalb allen Anlaß hatte, eine Verstrickung in die Brandaffäre zu leugnen, stammen die Hauptzeugen von Tobias. Dagegen sind jene Zeugen, deren von Hofer uns seinem Forschungsteam publizierte Bekundungen für die NS-Täterschaft sprechen, vor allem Angehörige des Reichstags-Personals, bei der Brandbekämpfung eingesetzte Feuerwehrleute und Polizisten sowie zufällig am Tatort anwesende Passanten, sodann Personen aus bürgerlich-konservativen und NS-Kreisen und der (an der Tat beteiligten) SA, die sich bald nach dem 30. Januar 1933 als von Hitler Betrogene sahen, schließlich Sozialdemokraten und Kommunisten - alles also Kreise, die ein solches Vertuschungs-Interesse nicht hatten. Aus all diesen Aussagen ergibt sich - auch nach Abstrich vielfältiger Erinnerungs- und anderer Fehler - ein in den Grundzügen klares Bild der nationalsozialistischen Planung und Täterschaft.
Tobias seinerseits schreckte nicht davor zurück, in seinem Buch Dokumente so zu manipulieren und zu verfälschen, daß sie zu seiner Behauptung der Alleintäterschaft van der Lubbes paßten. Einer, der ihm dabei half, war Paul Carell, in dessen Händen die redaktionelle Bearbeitung des 1959/60 im "Spiegel" veröffentlichten Tobias-Manuskripts lag. Sein wirklicher Name war Dr. Paul Karl Schmidt, ehemals Leiter der Nachrichten- und Presseabteilung in Ribbentrops Auswärtigem Amt und ein Fachmann der Rechtfertigung von schlagartigen Verhaftungsaktionen nicht nur im Falle des Reichstagsbrandes. In einer "Notiz für Herrn Staatssekretär" schrieb er am 27. Mai 1944:
"Aus einer recht guten Übersicht über die laufenden Judenaktionen in Ungarn entnehme ich, daß im Juni eine Großaktion auf die Budapester Juden geplant ist.
Die geplante Aktion wird in ihrem Ausmaß im Auslande große Beachtung finden und sicher Anlaß zu einer heftigen Reaktion bilden. Die Gegner werden schreien und von Menschenjagd usw. sprechen und unter Verwendung von Greuelberichten die eigene Stimmung und auch die Stimmung bei den Neutralen aufzuputschen versuchen. Ich möchte deshalb anregen, ob man diesen Dingen nicht vorbeugen sollte dadurch, daß man äußere Anlässe und Begründungen für die Aktion schafft, z.B. Sprengstoffunde in jüdischen Vereinshäusern und Synagogen, Sabotageorganisationen, Umsturzpläne, Überfälle auf Polizisten, Devisenschiebungen großen Stils mit dem Ziele der Untergrabung des ungarischen Währungsgefüges. Der Schlußstein unter eine solche Aktion müßte ein besonders krasser Fall sein, an dem man dann die Großrazzia aufhängt."
Es gehört zu den Seltsamkeiten der Reichstagsbrandforschung, daß ein professioneller Historiker wie Hans Mommsen sich von Fritz Tobias so hat hereinlegen lassen. Verstehen kann man dies allenfalls dann, wenn man sieht, daß die Bemühungen, die NS-Schuld am Reichstagsbrand zu bestreiten, tatsächlich "bruchlos" und "plausibel" in Mommsens "neue Sicht" der prinzipiellen Umbewertung des Wesens der NS-Diktatur zu einem Produkt großenteils unvorhersehbarer Entwicklungen, Ereignisse und Handlungszwänge passen. So schreibt Mommsen, daß Hitler "ein äußeres Stimulans brauchte, um sich von einem vorsichtigen, geradezu tatscheuen Agieren zu lösen und den Entschluß zu offensivem Handeln zu fassen. ... Der offenbare Erfolg der 'Flucht nach vorn', als die sich die gänzlich hypertrophen Abwehrmaßnahmen der Reichsregierung in der Brandnacht darstellen, bekräftigte Hitlers autosuggestive Überzeugung, eine missionarische Aufgabe zu erfüllen".
Eine vorfristige "Flucht" in die Diktatur als Folge eines Irrtums also? Man mag eine solche Argumentation plausibel nennen; erklärbar wäre sie auch als Wechselbeziehung zwischen zwei sich gegenseitig stützenden, heftig umstrittenen Hypothesen: Mommsen lehnte es 1986 ab, "sich erneut in die Gefilde der Detailquerelen der gesamten Angelegenheit zu begeben..., solange nicht eine neue Sicht der Machtergreifungsperiode als solcher, wie sie von der Forschung bereits ausgebreitet worden ist, in die Köpfe eindringt und damit auch eine sachgemäße Interpretation des Reichstagsbrandes, die notwendig zur Alleintäterschaft führt, verständlich erscheinen läßt".
Ein erstaunlicher Satz - zumal am Ende eines Buches voller Detailquerelen. Er postuliert, daß nur die eigene Sichtweise der richtige Maßstab zur Interpretation historischer Fakten sein kann. Ins Konkrete gewendet, führt die so eröffnete "neue Sicht" des NS-Systems, mag sie auch nachdrücklich dessen verbrecherischen Charakter betonen, doch zu einem Bild gerade der Machtergreifungs-Anfangsphase, das von "Verharmlosung" (Bracher) nicht frei ist. So ist Göring, einer der Haupt-Inszenatoren des Terrors zwischen dem 30. Januar und den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 also, bei Mommsen und Köhler stets "der Reichstagspräsident" oder "Innenminister", an dem - wie es im FAZ- Artikel heißt - "das eigenständige Vorgehen" hervorsteche, womit sich "das Element der Improvisation" verstärke. Worte Görings an die Brandstifter, von denen ein Dokument berichtet, werden zur Fälschung schon deshalb erklärt, weil unvorstellbar erscheint, daß "der Reichstagspräsident Göring", nachdem das Ermächtigungsgesetz unter Dach und Fach war, "in der Reichskanzlei" lobend über die Brandstifter gesprochen hätte. "Man stelle sich vor", daß dieser Mann gar Worte wie "Jungs", "Kerls", "Schwachköpfe" in den Mund genommen, den Reichstag als "die Bude" und "das Haus der Volksverderber" beschimpft haben soll." Weiterer "Beweis": In Nürnberg habe Göring selbst bestätigt, "daß er - falls er die Brandstiftung angeordnet haben würde - niemals darüber gesprochen hätte". Welch Ehrenmann und Kronzeuge der eigenen Unschuld!
"Man kann Göring vieles vorwerfen", schreibt dazu Köhler, "aber ihm ein derartiges törichtes Geschwätz zu unterstellen, hieße ihn auf das niedrige intellektuelle Niveau des Fälschers zu stellen." – Jedoch, was Köhler übersieht: Derselbe "Reichstagspräsident" sprach schon am 3. März 1933 in Frankfurt a. M. von des Marxismus "übelriechende(r) Sumpfpflanze" und "kommunistische(n) Stinkdämpfe(n) ": "Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts". Am 10. März in Essen titulierte er SPD und Zentrum als "Gauner, Strolche, Wucherer und Verräter". Als "Innenminister" hatte er schon am 2. März 1933 seine Polizeikommandeure angewiesen: "Erziehen Sie Ihre Leute dazu, daß, wenn sie auf Kommunisten schießen müssen, sie auf den Bauch halten, denn das ist die breiteste Stelle." Noch 1946 nannte er in Nürnberg, wie Werner Bross, Assistent des Göring-Verteidigers Otto Stahmer, schreibt, SA-Leute "diese prächtigen Kerls", und der Zeuge Gisevius war für ihn "dieser vollgefressene Kerl". - Welches Niveau!
Im Gegensatz zu diesem Hermann Göring ist Oberbranddirektor Gempp für Köhler "nur" ein korrupter Beamter, dessen "Entlassung und spätere Verurteilung ... nicht mit dem Reichstagsbrand zu tun hatte". In Wahrheit ist Gempp, der sich von seiner Überzeugung, es müsse mehrere Täter gegeben haben, nicht abbringen ließ, bald nach dem Brand vom Amt suspendiert und damit aus den Untersuchungen ausgeschaltet worden. Gerade hier haben neue Berliner Forschungen politische Gründe für die Absetzung eindeutig und dokumentarisch ergeben. Daß Gempp schließlich erst 1938 ein Korruptionsprozeß angehängt wurde und sein Leben im Gefängnis endete - ob Mord oder Selbstmord, ist ungeklärt -, bleibt bei Köhler unerwähnt. Göring und seine engsten Helfer als glaubwürdige Preußen, ihre Opfer als korrupte Kriminelle, und "Fälschungen am laufenden Band"... Daß zu solchen Konsequenzen kommen muß, wer die Alleintäterschaft verteidigt, ist eine erschreckende Bilanz.
Fassen wir zusammen: Selbstverständlich sind neue Befunde, Dokumente und Argumente zu überprüfen und zu diskutieren. Ernsthaft geforscht mit dem Ziel, bisher unbeachtete Zeugen und Dokumente zu finden, hat in diesem Streit, neben aller beidseitigen Polemik, seit über zwei Jahrzehnten nur eine Seite. Was Hofers Forschungsteam in zwei Bänden vorlegte, ist neues Material von solcher Fülle, daß man wohl fragen darf, wie all dies zuvor von Fritz Tobias übersehen werden konnte. Die Entdeckung einer "Fälscherwerkstatt" wäre in der Tat die "plausibelste" Erklärung hierfür. Was von Tobias, Mommsen, Janßen und ihrem Anhang tatsächlich vorgelegt wurde, ist indessen der Versuch, jahrelange Forschungsarbeiten durch persönliche Unterstellungen, mit massiven Fälschungsbehauptungen und zum überwiegenden Teil in einer Sprache, deren Stil und Geist betroffen macht, zu diskreditieren.
Von diesen Dokumenten und Forschungsergebnissen war schon 1979 in der "Zeit" nur am Rande, mit vagem Fälschungsverdacht und dem Vorbehalt späterer Nachprüfung, die Rede. Daß diese "Nachprüfung" 1986 außer neuen Diffamierungen nichts Substantielles zutage gefördert hat, ist oben gezeigt worden. Die ausführlichen Belege des Hofer-Teams dafür, daß Lubbes Alleintäterschaft schon rein technisch nicht möglich gewesen sei, wurden 1979 ebenso wie in dem 1986 erschienenen Buch ohne ernsthafte Argumentation als unerheblich abgetan. Und was das von Janßen erwähnte Urteil des Berliner Landgerichts und Kammergerichts betrifft: Die Richter wiesen am Ende eines von Calic – dessen Häftlingsstatus, Wiedergutmachungs-Anspruch und Doktortitel neben manch anderen Details von Janßen angezweifelt worden waren - angestrengten Prozesses die Klage ab, indem sie Janßens Unterstellungen die Qualität von Tatsachenbehauptungen absprachen. Die mitgeteilten Ansichten Dritter und Werturteile des Serien-Schreibers aber ("eine der unverfrorensten Geschichtsfälschungen dieses Jahrhunderts") seien in die Rubrik Freiheit der Meinungsäußerung und Pressefreiheit einzuordnen... Ein Urteil also, das für den formalen "Sieger" Janßen ebenso zwiespältig war wie für seine Gewährsleute.
"Blinder Eifer schadet nur", lautet ein altes Sprichwort, das vielleicht auch die Autoren des Piper-Bandes kennen, bei denen man freilich selbst hier auf der Hut sein muß: Gilt Henning Köhler doch das Sprichwort "Der Teufel wird immer schwärzer gemalt, als er ist", da es "in Deutschland ungewohnt" sei, als offenbar "balkanesisches" Teufelszeug und ein Beweis für Calics "Fälschungen". Im dickleibigen "Spruchwörterbuch" des Freiherrn von Lipperheide hätten Köhler und Janßen allerdings, bei etwas mehr quellenkritischer Sorgfalt, auf Seite 849 lesen können: "Der Teufel ist nie so schwarz, als man ihn malt." - Was zu beweisen war.
Jürgen Schmädeke