In memoriam Friedrich Zipfel (1920-1978)
Die Erforschung und Deutung des Nationalsozialismus, die lange Zeit nicht nur unter den Historikern heftige Kontroversen ausgelöst hat, gerät allmählich in ruhigere Bahnen. Selbst im langen Streit zwischen "Intentionalisten" und "Strukturalisten" 1 scheint sich weitgehend die Einsicht durchgesetzt zu haben, daß zum Bild der NS-Diktatur die weltanschauliche Zielgerichtetheit Hitlers und seiner Gefolgsleute und die machiavellistische Durchsetzung dieser Ziele ebenso gehört wie eine großenteils "chaotische" Führungsstruktur und die Improvisation von Entscheidungsprozessen unter Ausnutzung sich bietender Gelegenheiten.
[S. 604] Doch ausgerechnet bei einem Schlüsselereignis im Prozeß der "Machtergreifung" Hitlers stehen sich bis heute zwei Deutungsmuster kompromißlos gegenüber. Gemeint ist der Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933: Wurde er von nationalsozialistischen Brandstiftern entfacht, um ihn den politischen Gegnern – insbesondere den Kommunisten – anzulasten, sich einen Vorwand für verschärften Terror gegen diese zu verschaffen und damit der NSDAP nach Hitlers "legaler" Machtübernahme am 30. Januar auch die Mehrheit bei der Reichstagswahl am 5. März zu sichern? Oder hat der junge Holländer Marinus van der Lubbe, Angehöriger einer kommunistischen Splittergruppe, allein und für niemanden vorhersehbar diesen Brand gelegt, den die völlig überraschten Nationalsozialisten dann sogleich für sich ausgenutzt haben?
Es liegt auf der Hand, daß die erste, seit 1933 vorherrschende Deutung zugleich ein starkes Argument für die "Intentionalisten" ist, während die zweite, erst nach 1945 aufgekommene Interpretation eine ebenso starke Rechtfertigung für die "revisionistische" Sicht der "Strukturalisten" abgeben konnte. Das trug zur Schärfe des Streites bei, der ausbrach, als Fritz Tobias 1959/60 in einer "Spiegel"-Serie und 1962 in Buchform 2 vehement für van der Lubbes Alleintäterschaft eintrat, so die Nationalsozialisten vom Odium der Brandstiftung freisprach und damit ein zum Widerspruch reizendes Hitler-Bild verband. Durch eine "Schreckreaktion" Hitlers sei, so formulierte Tobias, "die Errichtung der nackten Diktatur" ausgelöst worden: "Aus dem zivilen Reichskanzler wurde damals fürwahr in einer Sternstunde der Menschheit im flammenlodernden Symbol des besiegten Weimarer Staates der machtberauschte, sendungsbesessene Diktator Adolf Hitler." 3
Hans Mommsen, der zu den ersten Vertretern einer neuen "revisionistischen" Sicht gehörte, nannte 1964 Tobias’ Bild von der "Sternstunde" zwar eine "überdehnte Interpretation", urteilte aber am Ende seines die Alleintäterschaftsthese von Tobias bestätigenden Aufsatzes, es sei "nicht von der Hand zu weisen", daß "jene hysterische Übersteigerung, in die ihn [Hitler] das Brandereignis vom 27. Februar hineintrieb, wesentlich dazu beigetragen hat, die letzten Hemmungen weg-
[S. 605] fallen zu lassen und sich völlig der Dynamik des Machthandelns hinzugeben". 4
Dem setzte eine internationale und interdisziplinäre Forschergruppe im Rahmen der Arbeiten des sogenannten "Luxemburger Komitees" unter Leitung von Walther Hofer 1972 und 1978 zwei Dokumentationsbände mit dem "negativen" und "positiven Beweis" der NS-Täterschaft entgegen, die auf umfangreichen Archivrecherchen und Zeitzeugenberichten beruhten und in denen Tobias’ Hauptzeugen als NS-Anhänger der ersten Stunde und Nutznießer des Regimes bloßgestellt wurden. 5
Den Gegenschlag führte 1979 Karl-Heinz Janßen in der "Zeit" in einer vor allem gegen Edouard Calic, Mitautor der Dokumentation und KZ-Häftling von 1942 bis 1945, gerichteten Serie von "Enthüllungen", die sich bei genauerem Hinsehen allerdings als unhaltbar erwiesen. 6 Dem folgte 1986 ein Sammelband, der den ansatzweise schon in Janßens Serie enthaltenen Vorwurf der Fälschung von Zeugenaussagen und Dokumenten breit ausführte. Auch dieser Vorwurf erwies sich indes bei detaillierter Nachprüfung als haltlos. 7
[S. 606] Angesichts der Fülle kriminalistischer und brandtechnischer Details, mit denen dieser Prinzipienstreit um die oder den wahren Brandstifter auf beiden Seiten von einer kleinen Expertenschar ausgetragen wurde und wird, übten die meisten professionellen Historiker, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, Zurückhaltung und zogen sich auf die Formel zurück, wer auch immer den Brand ausgelöst habe, so sei doch an seiner Instrumentalisierung für die Durchsetzung der Diktatur nicht zu deuteln, und vor allem darauf komme es an. In solcher Ambivalenz endete auch der bisher letzte kritische Überblick über den Streit, den Ulrich von Hehl 1988 in den "Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte" veröffentlichte: "Der Reichstagsbrand ist nicht der Schlüssel zur nationalsozialistischen Machtergreifung. [...] Es bedarf lediglich der Bereitschaft [...], auf eine historisch-kriminologische Frage eine methodisch überzeugende Antwort zu suchen: ,nüchtern, redlich und geduldig - und ohne vorschnelle Rücksicht auf das, was heute, morgen oder übermorgen aktuell sein könnte‘." 8
In der Tat: Genau darauf kommt es an, ganz im Sinne einer "Historisierung" und Abkühlung der Diskussion um dieses in mehrfacher Hinsicht "heiße" Thema. Dies gilt um so mehr, als die massiven Fälschungsvorwürfe mancherorts doch ihre Spuren hinterlassen haben und damit zur einseitigen Akzeptierung der Alleintäterschaftsthese beitragen – bis hin zur historischen Ausstellung "Fragen an die deutsche Geschichte" im Deutschen Dom am Berliner Gendarmenmarkt und deren vom Deutschen Bundestag herausgegebenen Katalog. 9
Ganz im Sinne Tobias’, Mommsens und ihrer Gewährsleute stellt
[S. 607] auch Ian Kershaw im 1998 erschienenen ersten Band seiner Hitler-Biographie 10 den Reichstagsbrand als Überraschungstat van der Lubbes dar, während die "gegenteiligen Behauptungen des Luxemburger Komitees [...] von den meisten Fachleuten für falsch gehalten" würden. Wer diese "Fachleute" sind, erfährt der Leser nicht. Andererseits rechtfertigt gerade Kershaw seine ausführlichen Darlegungen zum Reichstagsbrand mit der Bedeutung der Täterschaft für die Frage, ob die Nationalsozialisten "bei der Errichtung ihrer totalitären Herrschaft sorgfältig ausgearbeiteten Plänen folgten oder ad hoc auf unerwartete Ereignisse reagierten".
Nun ist es gewiß legitim, danach zu fragen, wie überzeugend die zahlreichen Indizien für eine NS-Täterschaft sind und ob sie den Rang eines schlüssigen Beweises beanspruchen können. Gleiches sollte dann aber auch für die Alleintäterschafts-Deutung gelten. Beide Interpretationen der Brand-Urheberschaft haben bisher vor allem unter einem gemeinsamen Manko gelitten: Die Untersuchungs- und Prozeßakten von 1933 waren 1945 von der Roten Armee nach Moskau verbracht worden und wurden erst um 1980 im Zusammenhang mit einer Dokumenten-Edition 11 an das Ost-Berliner "Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED" abgegeben. Bis zur politischen Wende von 1989/90 waren sie der freien wissenschaftlichen Forschung nicht zugänglich. Heute lagern die über 200 Aktenbündel im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde und können dort jederzeit eingesehen werden. Außerdem sind in den letzten Jahren zu Details des Reichstagsbrand-Komplexes zahlreiche Akten anderer Staats- und Gerichtsarchive erschlossen worden. Die Auswertung dieses Materials bietet damit auch eine Chance zur Versachlichung des jahrzehntelangen Streites um die Brandstiftung vom 27. Februar 1933.
Dazu soll dieser Aufsatz beitragen, indem er – in einer gewiß nicht vollständigen Auswahl - aus den Akten bisher unbeachtete oder unbekannte Details vorstellt, die für die Frage der Täterschaft von Belang sind, und sie mit den Argumenten für die Alleintäterschaftsthese konfrontiert, deren Kronzeugen für Tobias wie für Mommsen die 1933 mit der Untersuchung betrauten Kriminalisten und deren nationalsozialisti-
[S. 608] sche Vorgesetzte – allen voran der erste Gestapo-Chef Rudolf Diels - sind.
Im Mittelpunkt sollen dabei die drei Hauptpfeiler der für eine Alleintäterschaft sprechenden Argumentation stehen: