Am Abend des 27. Februar 1933, sechs Tage vor den Wahlen zum Reichstag am 5. März 1933, wurde der Plenarsaal des Berliner Reichstagsgebäudes durch Brandstiftung vernichtet. Die vom Reichskomissar für das preußische Innenministerium, dem Nationalsozialisten Hermann Göring, befehligte Polizei präsentierte noch in der gleichen Nacht einen schwer sehbehinderten jungen Holländer, Marinus van der Lubbe, als den auf frischer Tat gefaßten Täter. Er wurde als Kommunist ausgegeben, dessen Mittäter entkommen seien. Die Brandstiftung wurde von den Behörden als Fanal für einen beginnenden kommunistischen Aufstand gewertet.
Die seit dem 30. Januar aus Nationalsozialisten und Deutschnationalen zusammengesetzte Regierung Hitler erwirkte bei Reichspräsident Hindenburg bereits am nächsten Tag eine Notverordnung, die die Grundrechte zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte bis auf weiteres außer Kraft setzte. Die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat gab der Polizei die Möglichkeit, ohne weitere gesetzliche Beschränkung Personen in unbefristete Schutzhaft zu nehmen und die freie Meinungsäußerung einzuschränken.
Noch in der Brandnacht begannen die Verhaftungen
Noch in der Brandnacht, vor Erlaß der Notverordnung, begann auf Anweisung von Göring in Preußen, dem größten Land des Reiches, die Verhaftung tausender kommunistischer Funktionäre und Reichstagsabgeordneter. Auch linke Sozialdemokraten und parteiunabhängige Pazifisten wurden Opfer der Notverordnung. Neben der kommunistischen wurde auch die sozialdemokratische Presse verboten.
Nationalsozialisten und Deutschnationale nutzten Reichstagsbrand und Notverordnung als Wahlkampfschlager. Endlich werde durchgegriffen. Bei einer Rekordwahlbeteiligung von 88 Prozent erreichten NSDAP und Deutschnationale am 5. März zusammen erstmals eine knappe absolute Mehrheit der Stimmen (51,8 %), auf Kosten aller anderen Parteien steigerten die Nationalsozialisten ihren Stimmenanteil auf 43,9 %. Weil alle kommunistischen und einige sozialdemokratische Abgeordnete verhaftet oder geflohen waren, besaß die NSDAP die absolute Mehrheit der anwesenden Abgeordneten im Reichstag. Am 23. März ließ sich die Regierung Hitler unter Mithilfe der eingeschüchterten bürgerlichen Parteien per Ermächtigungsgesetz die völlige gesetzgebende Gewalt übertragen. Danach booteten die Nationalsozialisten schnell ihre deutschnationalen Koalitionspartner aus, verboten alle Parteien mit Ausnahme der NSDAP und behielten die Notverordnung vom 28.2.1933 mit ihrer Außerkraftsetzung der Grundrechte als legale Basis ihrer Terrorherrschaft bis zum Ende des III. Reiches bei.
Nach dem Reichstagsbrand verbreitete sich nicht nur unter Kommunisten und Sozialdemokraten, sondern auch bei Bürgerlichen und sogar Nationalsozialisten der Verdacht, die Nationalsozialisten hätten den Reichstag angezündet und van der Lubbe als Scheintäter präsentiert, um die Wahlen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Der Prozeß vor dem Reichsgericht in Leipzig (September bis Dezember 1933) wurde ein weltweit beachtetes Medienereignis. Neben Marinus van der Lubbe wurden der kommunistische Fraktionsführer im Reichstag Ernst Torgler und drei bulgarische Kommunisten angeklagt, unter ihnen der Kominternfunktionär Georgi Dimitroff.
Polizeifotos, die vier Tage nach der Tat veröffentlich wurden, zeigten Marinus van der Lubbe als einen normalen, aufrechten jungen Mann. Im Prozeß bot er dann für alle Beobachter ein erschreckendes Bild. Van der Lubbe war in den ersten Wochen des Prozesses mager, wirkte totenblaß und apathisch, hielt den Kopf stets nach unten geneigt. Im November und Oktober nahm er zu und wirkte stark aufgeschwemmt. Während des gesamten Prozesses brachte er kaum einen zusammenhängenden Satz hervor. Auf Fragen der Richter anwortete er, sich laufend widersprechend, meistens mit ja, nein und ich weiß nicht. Mitunter fiel er in ein unmotiviert erscheinendes Lachen, dann erschien er wieder über ganze Sitzungstage völlig abwesend. Ausländische Prozeßbeobachter, Psychologen und Mediziner vermuteten offen, van der Lubbe sei unter Drogen gesetzt worden. In der einzigen zusammenhängenden Aussage, die van der Lubbe vor dem Reichsgericht zur Tat machte, beteuerte er mit Hilfe eines Übersetzers: Ich kann nur immer wieder sagen, daß ich den Reichstag ganz allein angesteckt habe. Der Entschluß zur Anzündung des Reichstags sei eine Tat von zehn Minuten gewesen, der politische Symbolismus sei erst durch die ganze Entwicklung in den Fall hineingebracht worden.
Zum Verhängnis für van der Lubbe wurde, daß das Gericht die Protokolle der Vernehmungen heranzog, die der Kriminalkommissar der politischen Polizei, Dr. Walter Zirpins, in den Tagen unmittelbar nach der Tat (28.2-2.3.1933) ohne Dolmetscher mit dem nur gebrochen deutsch sprechenden van der Lubbe durchgeführt hatte. Der Beschuldigte hatte die Protokolle unterschrieben, Zirpins hatte gegengezeichnet. Nach dem Wortlaut dieser Dokumente hatte Marinus van der Lubbe den Vernehmungsbeamten in aller Ausführlichkeit geschildert, wie er die Brandstiftung allein beging. Auch soll er gegenüber Zirpins eindeutige politische Motive genannt haben: Meine Meinung war, daß unbedingt etwas geschehen müsse, um gegen dieses System zu protestieren. In seinem Abschlußbericht schrieb Zirpins, daß v. d. Lubbe die Brandstiftung zwar allein ausgeführt habe, daß aber ein dringender Verdacht bestehe, daß er im Auftrag kommunistischer Führer handelte.
Am 23. Dezember wurde Marinus van der Lubbe aufgrund eines am 29.3.1933 rückwirkend erlassenen Gesetzes wegen Hochverrats und aufrührerischer Brandstiftung zum Tode verurteilt. Die vier kommunistischen Angeklagten wurden mangels Beweise freigesprochen. Das Reichsgericht kam aufgrund von Zeugenaussagen und Sachverständigenanalysen zu der Feststellung, daß es neben Marinus van der Lubbe noch andere Täter gegeben habe. Zwei Zeugen hatten kurz vor dem Brandalarm eine Person aus Portal 2 des Reichstages herausrennen sehen. Der Chemiker Dr. Schatz stellte in Boden- und Rußproben aus dem Plenarsaal Spuren von Brandbeschleunigern fest. Das Reichsgericht äußerte die Überzeugung, daß van der Lubbe nur unbedeutende kleine Brandherde in Restaurant, Küchen und Umgängen gelegt habe. Diese sollten, so das Reichsgericht, die Feuerwehr von dem großen, von anderen Tätern professionell gelegten Brandherd im Plenarsaal ablenken. Die anderen Täter konnten nach Ansicht des Reichsgerichts nur Kommunisten sein, da Nationalsozialisten wegen ihrer vaterländischen Gesinnung zu solch einem Verbrechen nicht fähig seien. Marinus van der Lubbe wurde bereits wenige Tage nach dem Urteil am 10.1.1934 enthauptet. Seinen Angehörigen wurde untersagt, den Leichnam in der Heimat zu bestatten. Das aus Holland angereiste Beerdigungsunternehmen Lambooy mußte ihn ohne Feierlichkeiten auf dem Leipziger Südfriedhof beerdigen.
Nach dem Krieg wurde es eine in Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft herrschende Meinung, daß die Nationalsozialisten selbst die Täter der Brandstiftung waren, und daß sie Marinus van der Lubbe lediglich vorgeschoben hatten. Auch im Westen billigte man den von Kommunisten 1933 und 1934 im französischen Exil publizierten Braunbüchern Plausibilität zu. Im Osten galten sie ohnehin als letztes Wort in der Sache.
Der SPIEGEL schreibt Geschichte
Die Akten des Strafverfahrens gegen Marinus van der Lubbe und Genossen tauchten weder im Westen noch im Osten auf. Dr. Richard Wolff, der im Auftrag der Bundeszentrale für Heimatdienst und des Instituts für Zeitgeschichte die Quellenlage zum Reichstagsbrand untersuchte, kam zu dem Ergebnis, daß die Akten des Verfahrens wohl nicht mehr aufzutreiben seien. Zeugenberichte und Vernehmungen Görings durch die Amerikaner ließen es, so sein Ergebnis, als sicher erscheinen, daß die Brandstiftung ein Werk der Nationalsozialisten sei. Die Personalien der eigentlichen Täter seien aber wohl nicht mehr feststellbar. Richard Wolff gelang es, Dr. Zirpins in Hannover aufzuspüren. Wegen, wie es in einem Antwortschreiben heißt, schlechter politischer Erfahrungen lehnte es Zirpins aber ab, sich zum Reichstagsbrand zu äußern. Bestrebungen eines Bruders von Marinus van der Lubbe, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen, wurden wegen versäumter Fristen von der deutschen Justiz zunächst abgewiesen. Strafverfahren gegen die vom Reichsgericht nicht ermittelten Täter wurden nicht eingeleitet.
Die relative Ruhe um den Reichstagsbrand änderte sich schlagartig im Herbst 1959. In Heft 43/59 begann der SPIEGEL eine groß angelegte Serie zum Reichstagsbrand, die Rudolf Augstein als publizistische Weltsensation ankündigte. Der SPIEGEL habe auf der Grundlage langjähriger Recherchen des Hannoveraner Oberregierungsrates und Amateurforschers Fritz Tobias, der großen Jahrhundertlegende von der Täterschaft der Nationalsozialisten am Reichstagsbrand den Dolchstoß versetzt und sie endgültig erledigt. Mit einer Akribie, die jegliche Zeitungsmaßstäbe sprengt werde der SPIEGEL den Beweis führen, daß Marinus van der Lubbe der Alleintäter des Reichstagsbrandstiftung gewesen sei, daß die Nationalsozialisten an der Brandstiftung unbeteiligt waren, und daß sie von ihr ebenso überrascht wurden wie ihre Gegner.
In der zweiten Folge wurden erstmals umfangreiche Auszüge aus den vernichtet geglaubten Geständnisprotokollen v. d. Lubbes abgedruckt. Gegenüber dem Spiegel war Zirpins plötzlich bereit, sich zu äußern. Er ließ sich als Leiter der Landeskriminalpolizeistelle Hannover abbilden (Bildunterschrift: Kriminalkommissar Zirpins Mittäter -Bedenkenlos verneint). Er bestätigte, Marinus van der Lubbe 1933 und danach für den Alleintäter gehalten zu haben. Van der Lubbe habe vor der Polizei immer wieder das gleiche, präzise und glaubwürdige Geständnis seiner Brandstiftungshandlungen und seiner anarchistischen Motive abgelegt: Am Tatort seien nur die von ihm hinterlassenen Spuren aufgefunden worden. Hinweise auf andere Täter hätten völlig gefehlt.
Auf diese Darstellung Zirpins aufbauend behauptete die Serie, alle Verdächtigungen, van der Lubbe habe Mittäter gehabt, ob kommunistische oder nationalsozialistische, seien das Ergebis der Legendenbildung in der damals explosiven Auseinanderstzung zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten gewesen. Auch das Gericht und die Brandsachverständigen seien der Legendenbildung erlegen, als sie zu ihren Feststellungen über Mittäter kamen. Augstein formulierte die zeitgeschichtliche Konsequenz der neuen Erkenntnisse: Der zynische Meisterstreich der Nazis, ihre Antrittsschurkerei, fand nicht statt.
Obwohl der SPIEGEL und Tobias die von den Kommunisten im französischen Exil publizierten Braunbücher der Lügen und Legendenbildung bezichtigte, kam von DDR und Sowjetunion keine massive Kritik der Alleintäterthese. Sie wurde praktisch ignoriert. Unter westlichen Historikern blieb die Täterschaft am Reichstagsbrand umstritten und wenig beachtet. Wichtig, so die meisten Historiker, sei nicht, wer den Reichstag angezündet habe, sondern wie schnell und geschickt die Nationalsozialisten den Brand für ihre Machteroberung genutzt hätten. Eine Gruppe von Historikern um den Schweizer Walther Hofer hielt an der Täterschaft der Nationalsozialisten fest und kritisierte die Alleintäterthese als Irreführung. Sie publizierte in den siebziger Jahren die alten und ein neues Brandgutachten sowie angeblich aus dem Jahr 1933 stammende Dokumente von Zeitzeugen, die sie privat aus der DDR erhalten hatten und die sensationelle Beweise für die Täterschaft der Nationalsozialisten enthalten sollten. Sie begegneten aber immer stärkerem Mißtrauen, als Tobias, der SPIEGEL und andere ihnen in den achtziger Jahren vorwarfen, ihre sensationellen Dokumente seien gefälscht, zumal sie gegen diese Behauptung nicht entschieden gerichtlich vorgingen. Vor allem Journalisten und jüngere Historiker zogen aus dieser Entwicklung den Schluß, daß die Alleintäterthese doch das letzte Wort zum Reichstagsbrand sei.
Neue Aktenfunde widerlegen SPIEGEL
In seinem Buch hatte Fritz Tobias 1962 geschrieben, daß die Originalakten von Polizei und Reichsgericht 1945 von den Sowjets im Leipziger Reichsgericht erbeutet, zuerst nach Moskau verschleppt und dann in den fünfziger Jahren an die DDR abgegeben worden wären. Dort lägen sie bei der Justizverwaltung, die sie nicht verwende, weil sie nur die den Kommunisten unpassende Alleintäterschaft v. d. Lubbes bewiesen. Die deutsche Wiedervereinigung brachte dann den Zugang zu jahrzehntelang unzugänglichen ostdeutschen Archiven und in Sachen Reichstagsbrand eine Überraschung.
Die Originalakten des Reichstagsbrandverfahrens waren erst 1982 als Fond 551 aus der Sowjetunion an das Zentrale Parteiarchiv der SED abgegeben worden, wo sie als Sonderbestand unter Verschluß gehalten wurden. Die Akten befinden sich inzwischen im Bundesarchiv Potsdam und sind seit Anfang 1993 für die Forschung zugänglich. Zweifel an ihrer Echtheit werden weder vom Bundesarchiv noch von anderen Seiten vorgebracht.
Die Akteneinsicht zeigt, daß van der Lubbe bei Ermittlungsleiter Dr. Zirpins ein Geständnis unterzeichnete, das von dem tatsächlichen Geschehen sehr weit entfernt war. Auch der von Zirpins verfasste polizeiliche Abschlußbericht widerspricht zahlreichen aktenkundlichen Erkenntnissen. Während Zirpins behauptete, eine Unzahl neuer Spuren habe der Überprüfung nicht standgehalten, steht nach der Akteneinsicht fest, daß mehrere Spuren von der politischen Polizei offensichtlich oberflächlich oder überhaupt nicht untersucht wurden. Der Verdacht, daß Zirpins die Vernehmungsprotokolle und Ermittlungsergebnisse manipulierte, läßt sich sehr dicht belegen.
Spuren unterdrückt...
Entgegen der Darstellung Dr. Zirpins wurden neben Marinus van der Lubbe am Brandabend im oder unmittelbar am brennenden Reichstag noch zwei weitere dringend tatverdächtige Personen von der Schutzpolizei festgenommen: Der nach eigenem Bekunden rechtsradikale Schornsteinfegermeister Wilhelm Heise und der beim Herausrennen aus dem brennenden Reichstag festgenommene nationalsozialistische Abgeordnete Dr. Albrecht. Albrecht wurde sofort wieder freigelassen, als ein Polizeioffizier ihn als Nationalsozialisten erkannte. Der Schornsteinfeger Heise wurde bereits wenige Stunden nach seiner Festnahme am 28.2 um 4.45 Uhr wieder freigelassen, obwohl er nach der Festnahme versuchte, Selbstmord zu begehen und zunächst angab, häufig im Reichstag zu tun zu haben, dann aber leugnete, jemals im Reichstag gewesen zu sein.
Die politische Polizei wurde von einem wenige Tage zuvor neu ernannten Chef geleitet, Oberregierungsrat Dr. Rudolf Diels. Diels war ein Günstling des Nationalsozialisten Göring und des nationalkonservativen Vizekanzlers im Kabinett Hitler, Franz von Papen. Er wurde im April 1933 der erste Chef der Gestapo. Dem Verdacht gegen Heise und Albrecht gingen Diels Beamte nicht weiter nach. Auch an den Ermittlungen gegen F.C.A. Schoch, einen Holländer, der am 4.3 nach einer am 28.2 einsetzenden Fahndung festgenommen wurde, scheint man kein Interesse gehabt zu haben. Schochs Wagen mit holländischem Kennzeichen war von zahlreichen Zeugen am Brandtag vor Portal 5 des Reichstag beobachtet und als verdächtig gemeldet worden. Die politische Polizei stellte bei den Vernehmungen Schochs fest, daß dieser auch zur Brandzeit vor dem Reichstag gehalten hatte und zuvor am Mittag wahrscheinlich im Reichstag gewesen war. Obwohl er kein Alibi für die Anfangszeit der Brandstiftung hatte, wurde Schoch schnell freigelassen, als er intensive Kontakte zu Deutschnationalen und Sympathien für die Nationalsozialisten offenbarte. Der Tatverdacht gegen ihn wurde nie bekannt. Während des III.Reiches lebte er in Deutschland und Österreich und nahm eine Führungsposition in Goebbels Filmindustrie ein.
Aus dem Bericht des für Spurensicherung zuständigen Erkennungsdienstes geht hervor, daß an einer Tür, durch deren Glasfenster v. d. Lubbe in die Reichstagsküche eingebrochen sein soll, lediglich Fingerabdrücke einer anderen Person gefunden wurden. Die Spurensicherung spricht von Fingerabdrücken eines Verdächtigen, der nicht mit van der Lubbe identisch ist. Laut den Vernehmungsprotokollen befragte Dr. Zirpins seinen Verdächtigen dazu ebensowenig, wie zu den anderen nicht auf ihn verweisenden Spuren. Im Fall des verdächtigen holländischen Wagens ignorierte Zirpins dabei sogar die ausdrückliche Aufforderung einer anderen Polizeidienststelle, van der Lubbe zu fragen, ob seine Herreise mit diesem Wagen in Verbindung stehe.
Auch das Protokoll der Vernehmung van der Lubbes durch Amtsrichter Pieper und der von ihm ausgestellte Haftbefehl (4.3.1933) widersprechen den von Zirpins zu verantwortenden Geständnisprotokollen. Vor Pieper verhielt sich v. d. Lubbe so wortkarg wie später vor dem Reichsgericht. Er berichtete nicht selbst, sondern erhielt Zirpins Protokolle vorgelesen. Zunächst bestätigte er pauschal, die Angaben in den Protokollen seien richtig. Auf Nachfrage Piepers nach seinen Motiven, widersprach er dann aber den dort protokollierten politischen Motiven seiner Tat. Bei der Brandstiftung habe er sich gar nichts gedacht. Entsprechend stellte Pieper den Haftbefehl nur wegen Brandstiftung aus. Vorbereitung zum Hochverrat, der Sachverhalt, der die Reichstagsbrandstiftung erst zur Rechtfertigung für die Notverordnung vom 28.2.1933 werden ließ, wurde nachträglich von anderer Hand als der des Protokollbeamten hinzugefügt.
Van der Lubbe wurde erst ca. 14 Tage nach dem Reichstagsbrand von den primär für die Ermittlung der Brandstiftung zuständigen Beamten des Brandkommissariats bei Ortsterminen intensiv zum Hergang der Brandstiftung vernommen. Die im Fond 551 vorliegenden Protokolle dieser Vernehmungen belegen, daß er sich bei der Darstellung seiner angeblichen Brandstiftungshandlungen in immer neue Widersprüche verwickelte und seinen von Zirpins protokollierten angeblichen Brandweg nicht nachvollziehen konnte.
Am 5.5. 1933 erwies ein Ortstermin des Untersuchungsrichters Vogt, daß van der Lubbe die in Zirpins Geständnisprotokollen angegebenen Stelle für seinen angeblichen Fenstereinstieg in den Reichstag gar nicht kannte. Dafür stellte Vogt bei seiner Vernehmung fest, daß van der Lubbe sich in Portal 2 aufgehalten hatte, wo er nach Zirpins Protokollen gar nicht gewesen sein durfte. Zusammen mit anderen Zeugenbeobachtungen ergab dies den Verdacht, daß der Holländer durch Portal 2 in den Reichstag gelangt war. Diesem Verdacht gingen aber weder Polizei noch Reichsgericht nach.
Die Ermittlungsakten des Fond 551 belegen, daß alle für v. d. Lubbes Einstieg in den Reichstag und seine dortige Brandstiftungstätigkeit dem Reichsgericht vorgelegten Beweise unrichtig waren. Es liegen Zeugenaussagen vor, wonach der angebliche Attentäter nicht wie vor Gericht dargestellt auf frischer Tat im brennenden Reichstag festgenommen wurde, sondern im brennenden Reichstagsgebäude umherirrte. Offenbar fand er keinen Fluchtweg. Dr. Zirpins hatte protokolliert, van der Lubbe habe fast seine gesamte Bekleidung bis auf die Hose als Lunten für die Inbrandsetzung des Gebäudes benutzt. Wie aber in einem später unterdrückten Polizeibericht für die Presse vom 4.3.33 angegeben wird, mußte er sich seiner Kleider entledigen, weil diese Feuer gefangen hatten.
Falsch ausgesagt
Aus Polizeifunksprüchen der Brandnacht, Aussagen von Schutzpolizisten, Presseberichten und aus Telefonabhörungen, die Göring während des Prozesses veranlaßte, geht hervor, daß Dr. Zirpins vor dem Reichsgericht unter Eid falsch über den Zeitpunkt der ersten Vernehmung van der Lubbes durch die politische Polizei aussagte. Van der Lubbe war bereits in der Wache am Brandenburger Tor von der politischen Polizei vernommen worden. Zirpins dagegen beschwor, sein Kollege Heisig habe den Verdächtigen nach Überstellung aus der Wache als erster Beamter der politischen Polizei im Polizeipräsidium vernommen. So half er gegenüber Reichsgericht und Prozessöffentlichkeit zwei Sachverhalte zu vertuschen. Die politische Polizei war überaus schnell am Tatort und griff schon zu einem Zeitpunkt, zu dem noch keine Informationen über den Hintergrund der Brandstiftung vorlagen, in die Tätigkeit der Schutzpolizei ein. Nach einem Funkbericht des Woilffschen Telegrafenbüros vom Brandabend über die Vernehmung v. d. Lubbes durch die politische Polizei in der Brandenburger Torwache - abgedruckt in der Frankfurter Zeitung vom 28.2.1933, zweites Morgenblatt - war van der Lubbe nicht halbnackt, sondern trug einen dunklen Arbeitsanzug mit Pelerine. Eine Bekleidung, die wohl eher zu einem Schornsteinfeger paßte und auf die unterdrückte Spur des Schornsteinfegers Heise hätte führen können.
Die Ermittlungsakten des Fond 551 geben keinen sicheren Aufschluß darüber, wie Marinus van der Lubbe am Abend des 27. Februar in die Reichstagsbrandstiftung hineingeriet und warum er in der Hauptverhandlung ein nicht mit den Ermittlungen übereinstimmendes Geständnis über die Brandstiftungshandlungen und seine Alleintäterschaft ablegte. Sie legen es als am wahrscheinlichsten nahe, daß er durch Portal 2 in das Reichstagsgebäude gebracht wurde, als dieses schon brannte, und daß er dann nicht mehr herausgelassen wurde. Nachdem er im brennenden Gebäude festgennommen worden war, glaubte er wahrscheinlich, seine Haut durch ein Geständnis alleiniger Täterschaft - ohne politische Motive - retten zu können.
Da wichtigen Spuren nicht weiter nachgegangen wurde, wenn sie ins Lager der Regierungpartner verwiesen, geben die Akten des Fonds 551 außer zu den bereits erwähnten drei Personen Albrecht, Heise und Schoch keine Hinweise zu der wahrscheinlichen Identität der beteiligten Brandstifter. Die Spuren lassen es aber als plausibel erscheinen, daß die Brandstiftung von Nationalsozialisten und ihren damaligen nationalkonservativen Bündnispartnern unter Beihilfe von Beamtenpersonal des Reichstages vorgenommen wurde. (Seit 1932 war Göring Reichstagspräsident) Die Täter mußten nicht den sagenumwobenen unterirdischen Gang zwischen Reichstagspräsidentenpalais und Reichstag benutzen. Wie in den Akten enthaltene Zeugenaussagen nahelegen, die von der politischen Polizei nicht beachtet wurden, öffneten Helfer ihnen wahrscheinlich die Portale 2 und 3. So konnten sie viel unspektakulärer in den Reichstag eindringen und aus ihm entkommen, als durch den vielfach angeführten unterirdischen Gang zwischen Reichstag, Reichstagspräsidentenpalais und Heizkraftwerk.
Die Regierung Hitler war nicht überrascht
Vor dem Reichsgericht hatte Goebbels als Zeuge unter Eid ausgesagt, vom Reichstagsbrand durch einen überraschenden Anruf des Auslandspressechefs der NSDAP, Ernst Hanfstaengl informiert worden zu sein. Hanfstaengl habe Ende Februar im Reichstagspräsidentenpalais unmittelbar gegenüber vom Reichstagsausgang gewohnt und ihn am Brandabend kurz nach neun aus dem Reichstagspräsidentenpalais angerufen und den Brand geschildert. Den ersten Anruf Hanfstaengls habe er für einen Scherz gehalten, und erst nach dessen zweiten Anruf habe er den Führer informiert und weitere Erkundigungen eingezogen, so daß sie beide zum Brandort eilten. 1934 veröffentlichte Goebbels Tagebücher, die diese Darstellung als Tagebucheintrag wiederholten. Tobias wertete die Darstellung Goebbels als Beweis dafür, daß die Nationalsozialisten vom Brand überrascht wurden.
In den Ermittlungsakten findet sich die untersuchungsrichterliche Aussage des Nachtpförtners im Reichstagspräsidentenpalais, Adermann, der zur Folge Ernst Hanfstaengl weder im Reichstagspräsidentenpalais wohnte noch am Brandabend dort anwesend war. Nachtpförtner Adermann wurde im Reichstagsbrandprozess nicht dazu vernommen, wer am Brandabend im Palais wohnte und anwesend war. Aus von Oberregierungsrat Diels bereits am Nachmittag des 27.2. 1933 veranlaßten und ausgesendeten Polizeifunksprüchen geht hervor, daß die Verhaftungsaktion gegen Kommunisten und linke Sozialdemokraten, die nach dem Brand in der Nacht zum 28.2 einsetzte, schon unmittelbar vor dem Brand eingeleitet wurde. So widerlegen die Akten des Fond 551 die von Augstein und Tobias vorgebrachte Darstellung, daß der damalige nationalsozialistische kommissarische preußische Innenminister Göring die Verhaftungsaktion als Reaktion auf den Reichstagsbrand nach kurzer Abstimmung mit Hitler und von Papen - überrascht und in Panik - ausgelöst haben soll.
Eine Reihe der Sachverhalte, welche die von Tobias und SPIEGEL behauptete Alleintäterschaft Marinus van der Lubbes ausschließen, finden sich auch in den Aktenabschriften und Hauptverhandlungsprotokollen belegt, die seit den fünfziger Jahren im Bundesarchiv Koblenz und dem Institut für Zeitgeschichte archiviert waren. Der SPIEGEL und Tobias hatten sie aus ihrer Darstellung der Reichstagsbrandstiftung systematisch ausgeklammert, auch die Gegner der Alleintäterschaftsthese haben sie größtenteils unberücksichtigt gelassen. Hans Mommsen, der sie bei seiner angeblichen Überprüfung der Alleintäterthese hätte finden müssen, vertraute wohl auf die angebliche Sorgfalt der SPIEGEL-Recherchen und nahm von ihnen keine Notiz.